Jean Vallat

Von einem, der auszog, um die richtigen Fragen zu stellen

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Wenn mich damalige Studienkolleginnen und -kollegen fragen, was mir von der ETH geblieben sei, dann sage ich meist: «interdisziplinäres Denken und Handeln». Und wenn dann nachgefragt wird, wie ich das ausgerechnet an der ETH – dem Inbegriff einer technischen Hochschule – gelernt habe, dann gibt es dazu genau einen Namen und ein Vorbild: Jean Vallat. Der erstaunliche Professor für landwirtschaftliche Betriebslehre erfüllte das Klischee eines ETH-Technokraten ganz und gar nicht. Erinnerungen von Michael Kaufmann.

Jean Vallat war ein Nachdenklicher, der auch von uns Studierenden Nachdenken und -fragen erwartete und nebst allem Agrarwissen sowie praktischen Kenntnissen der real existierenden Agrarbürokratie zumindest immer auch einen philosophisch-politischen Seitenblick einforderte. So kam es vor, dass er mitten in Vorlesungen über trockene Agrarbuchhaltung etwas ausufernde Bemerkungen und Kommentare zum Agrar- und Zeitgeschehen machte.

Ein unbequemer Fantast mit kritischem Blick

Jean Vallat war aber auch ein Unbequemer. Sowohl von Kollegen als auch von Studierenden wurde er teils belächelt, teils als unseriös oder als Fantast abgestempelt; wie so viele, die manchmal im falschen Moment die genau richtigen Fragen stellen. Jedenfalls kommt mir das in den Sinn, wenn ich an diese längst vergangene Zeit zurückdenke und an jenen Vallat, der die von uns damals organisierten freien Seminare über Entwicklungsländer, Rohstoffhandel, Energie- und Umweltfragen im Gegensatz zu allen anderen Dozierenden nicht nur unterstützte, sondern auch aktiv und mitdiskutierend besuchte.

Von Bodenspekulation, Dorffürsten und Baulandbauern

Kein Zufall also, dass ich es trotz meines Studienschwerpunkts «Pflanzenbau» durchbrachte, meine abschliessende Diplomarbeit über den Bodenhandel in der Gemeinde Worb bei Bern verfassen zu dürfen. Jean Vallat, der Professor für Betriebslehre, hatte uns – durchaus unter ungeschminkter Verwendung des Begriffs «Bodenspekulation» – unter anderem an Beispielen aus dem Wallis aufgezeigt, wie ganze rurale Regionen der Schweiz in Zeiten des grossen Wachstums der 1960er-Jahre zu Agglomerationssiedlungen geworden waren; dies unter Opferung besten Kulturlandes aber auch der Natur und bei gleichzeitiger Abschöpfung immenser Bodenverkaufssummen durch einige wenige «Dorffürsten» und «Baulandbauern».

Diese ökonomisch-sozialen Zusammenhänge entdeckten wir dann tatsächlich bei der Recherche in der aufstrebenden Berner Vorortsgemeinde Worb. Innert zwanzig Jahren hatte sich die Wohnbevölkerung dort bei Verzehnfachung der durchschnittlichen Bodenpreise verdoppelt, während ein behäbiger Bauernhof nach dem anderen diskret unter dem Beton verschwand.

Und heute?

Meine weitere Lebensbahn wurde von diesen Erfahrungen vorerst unmittelbar geprägt: Jean Vallat machte uns 1979 mit dem aufmüpfigen Waadtländer Bauern Olivier Delafontaine bekannt. Dieser sammelte damals für seine Volksinitiative für eine Bauernlandreform und gegen Spekulation Unterschriften – so bildete sich eine kleine Deutschschweizer-Gruppe zur Unterstützung dieses letztlich aussichtslosen Vorhabens. Ein Jahr nach dem Scheitern der Unterschriftensammlung entstand die sogenannte «Stadt-Land-Initiative gegen die Bodenspekulation». Diese hatte bald breite Unterstützung in ländlichen Kreisen, von der sich ebenfalls in diesen Jahren bildenden Kleinbauernbewegung, von den Biobauern, von den Grünen und von den linken Parteien. Die Initiative scheiterte in der Volksabstimmung im Jahre 1988 mit einem Nein-Stimmen-Anteil von fast 70 Prozent, löste aber einige Reformen im bäuerlichen Boden- und im Raumplanungsrecht aus, welche den Kulturlandverlust zeitweise etwas abmilderten.

Das alles geschah kurz vor Vallats Emeritierung und seinem «Rückzug» in sein geliebtes Wallis. Unsere Wege haben sich danach nicht mehr gekreuzt und doch haftet mir, nochmals gut 30 Jahre später, das Vermächtnis von Jean Vallat im Kopf: Was hat sich seither wirklich verändert in der Schweizer Agrarpolitik?

Vom Willen getrieben, das Unmögliche zu erreichen

Jean Vallats schopenhauerscher Pessimismus hat sich auch im Zeitalter sanft ökologisch orientierter Direktzahlungen teilweise bewahrheitet: Heute, im Jahre 2021, ist die lebendige Kultur des sogenannten ländlichen Lebens – und das durchaus nicht nur im konservativen Sinne – weiterhin im Schwinden begriffen. Die Konsumwelt serviert uns an Ostern südspanische Erdbeeren, die Umwelt- und Pestizidbelastungen aus der intensiven Landschaft sind nach wie vor markant, der Bio-Boom (den zwar alle herbeireden) hat die 10 %-Marktanteilhürde immer noch nicht geschafft, die Zahl der Bauernhöfe und das Kulturland nehmen immer noch ab, während die Bodenpreise weiterhin munter in die Höhe klettern.

«Professeur de philosophie appliqué»

Vallat war ein Mahner mit einem Horizont weit über die rein technischen und agrarwirtschaftlichen Erkenntnisse hinaus. Der «professeur de philosophie appliqué», wie ihn der Bundesrat und Agrarwissenschaftler Friederich Traugott Wahlen so treffend charakterisiert hatte, hat auch nach seiner Pensionierung und bis zu seinem Tod im Jahr 2009 immer noch unbequeme Fragen gestellt und manchmal auch polemische Antworten geliefert. Dies wohl in der letztlich bei ihm nie versiegenden Hoffnung, etwas zu bewegen. So publizierte er in der Wochenzeitung «WoZ» im Jahre 2006 einem Text zum kurz zuvor publizierten bundesrätlichen Konzept zur Agrarpolitik 2011 (AP 2011). Vallat wies dieses an den Absender zurück und meinte: «Wir müssen uns vielmehr an eine schwierige und sehr komplexe Aufgabe machen gegen die Einfältigkeit des derzeit herrschenden Wirtschaftsmodells. Es geht darum, eine Landwirtschaftspolitik aufgrund der Bedingungen zu entwerfen, die uns die Natur vorgibt. Die Ökonomen haben vergessen, dass die landwirtschaftliche Produktion von der Natur abhängig und daher ungleichmässig ist.»

Es bleibt zu hoffen, dass auch heute noch Köpfe wie Jean Vallat bei den Agrarwissenschaften der ETH Zürich mitwirken. Die künftigen Generationen der Studierenden, aber letztlich auch unsere Landwirtschaft, werden diesen Weitblick und die Querbezüge zu Gesellschaft und Wirtschaft brauchen.